Lenas Geschichte


Im wahrsten Sinne des Wortes schreiben unsere Motive Geschichte.
Unsere Geschichte heißt "Lenas Knopfsuche" und wird mit jeder Kollektion weitergeführt!

Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen dieser einzigartigen Geschichte

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Lena's Knopfsuche


Überall pieksten sie mich...überall...ich konnte nichts mehr sehen.
Ich musste ausweichen. Ich hatte Angst. Würden sie mir die Augen zerstechen? Der prasselnde Regen betäubte meine Ohren. Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Gefangen. Ich war auch gefangen: zwischen endlos vielen Regenschirmen und trotzdem pitschnass. Der Gegenstand zum Schutz vor Nässe erwies sich gerade eher als Feind und die Träger dieser unerbittlichen Monstergegenstände waren grau, grau, grau, schlecht gelaunt und grau. Ich kam mir so furchtbar verloren vor – in meinem kurzen T-Shirt. In meinen hellen Jeans und meinen bunten Sneakern. Natürlich waren all diese grießgrämigen Menschen wieder schlauer als ich gewesen und hatten den Wetterbericht gehört: Ein anhaltendes Kältetief mit Regen vertreibt die letzten Sonnenstrahlen des goldenen Herbst. Winterstimmung hält Einzug im Lande. Es war immer so: entweder ich zog mich zu warm oder zu kalt an.


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Autsch...ein unangenehmer Piekser von einem Schirmausläufer riss mich aus meinen Gedanken. „Rush hour“ konnte man das wohl nennen: alle Leute rennen – als ginge es um ihr Leben – zum Bus um den Nachhauseweg anzutreten. Und wohin? In ihr Musterhaus oder ihre Musterwohnung mit dem langweiligen Max Mustermann Klingelschild. Aber wieso musste dieses Leben, diese Welt so furchtbar trist sein – wieso gab es so viel grau und schwarz und nicht mehr bunte Farbenkleckse? Schon alleine diese Auswahl an Schirmen, alle sahen sie aus wie lieblose Werbegeschenke. In dunkelblau, grau und schwarz. Hätte ich doch bloß mein Prachtstück mitgenommen: Knallrot mit vielen Punkten und bunten Knöpfen drauf. Ich musste aus der Reihe tanzen. Das tat ich schon als Kind – damals habe ich Knöpfe gesammelt. Auch die Knöpfe, die in der Kleiderabteilung von unserem Kaufhaus noch an der Kleidung hingen. Viel Ärger habe ich mir damit eingehandelt, aber auch viel Freude – meine Knopfsammlung ist immer noch mein Heiligtum. Und daraus habe ich auch etwas gemacht, etwas – das könnt ihr euch nicht vorstellen – ich habe...“AUA!“ mir schossen Tränen in die Augen. Aus Schmerz und auch aus Wut.


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So eine dämliche Schirmspitze hatte mich ins Auge gepiekst. „Boar! Dir kratze ich die Augen aus!“ wütete ich. Als ich meinen Blick aufrichtete, strahlte mich ein attraktiver Junge an. Ich korrigiere: Mann. Schließlich schien er in meinem Alter zu sein. Er hatte – es war so klar: ein graues T-Shirt an...aber seine Augen strahlten – sie waren stahlblau und als ich sein Gesicht noch weiter unter die Lupe nahm, entdeckte ich etwas, was mich noch viel mehr erfreute: Froschgrüne Kopfhörer! Wenigstens etwas Sonnenschein an diesem Tag. In meiner Phantasie tanzten die Noten zu seiner Musik und rankten sich um mich und ihn. Doch auch die Realität war nicht ernüchternd. Denn es schien ihm wirklich leid zu tun und er wollte mich auf einen Kaffee einladen: Aber so leicht ließ ich mich nicht um den Finger wickeln. Mal so auf nen Kaffee einladen, kam da gar nicht in die Tüte. Ich antwortete: „Besorg mir einen besonderen Knopf und dann überlege ich es mir.“ Der Blick von ihm, das konnte ich mir denken. Unkonventionalität war ja nicht gerade eine Tugend in der heutigen grauen Gesellschaft. Er schaute mich an, als hätte ihn ein Pferd getreten, aber seine Sommersprossen waren trotzdem süß...ach quatsch...so was Sentimentales, so bin ich doch gar nicht. Doch als sich sein Blick klärte, folgte gleich die unerwartete Antwort: „Okay.“ Und das ohne wenn und aber. Ich war überrascht. „Gehen wir gleich auf Knopfsuche?“ fragte er. „Äähhh...Ooo..kay.“ stammelte ich. Dann spannte er seinen Schirm auf – er war knallrot – und wir kämpften uns durch die langweilige Masse.


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Bewaffnet mit einer kindlichen Mission, die uns zwischen all den langen Gesichtern strahlen ließ. Tatsächlich schien dieser Mann zu wissen, was er wollte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er lief ohne Umwege auf den großen Stadtpark zu. Einen meiner Lieblingsplätze, hier konnte ich stundenlang sitzen, unter den verschnörkelten Eichen und Bücher lesen. Bücher, die mich in andere Welten führten, Welten die bunt und kreativ waren. Jetzt machte der Park jedoch einen eher trostlosen Eindruck: von den Ästen der uralten Bäume tropfte der Regen, ihre Blätter lagen auf der vom Nass durchtränkten, matschigen Wiese – die nicht annähernd so duftend grün und weich war wie im Sommer. Aber Moment: Wieso gingen wir im Park auf Knopfsuche? Nicht dass ich es hier mit einem verrückten Irren zu tun hatte, der mich...oh Gott... „Stopp!“ sagte ich bestimmt. „Was wollen wir hier?“ „Ich hatte heute einen seltsamen Tag.“ antwortete er mir. Was war das denn für eine Antwort auf meine Frage? „Ich habe heute an dieser Stelle...“ wir befanden uns in dem Rondell des Parks. „…einen Knopf gefunden.“ Er zog einen durchsichtigen Knopf mit goldener Inschrift aus seiner Hosentasche. Der Knopf zog mich in seinen Bann. Er erinnerte mich an etwas. An etwas Schönes. Doch was war es? „Komm mit.“ sagte ich zu ihm. „Aber willst du nicht meine Geschichte zu Ende hören?“ fragte er mich völlig aus dem Konzept gebracht. „Ich glaube ich habe auch eine Geschichte zu diesem Knopf.“ antwortete ich.“...in meinem Laden. Dort ist es warm. Dort gibt es Kaffee und eine gemütliche Couch. Ich glaube, wir müssen uns über etwas unterhalten.“ Ich wusste jetzt, woran mich dieser Knopf erinnerte. Aber das war nicht der richtige Ort. „Okay.“ meinte er. Dieser Mann war wirklich unkompliziert.


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So machten wir uns auf den Weg und stiegen in den nächsten Bus – zum Glück hatte das Gedränge aufgehört. Es war seltsam: ich saß neben einer Person, dessen Namen ich nicht einmal kannte und der mir doch so seltsam vertraut war. Doch anstatt nach seinem Namen oder irgendetwas Persönlichem zu fragen, forderte ich ihn auf mir den Knopf zu geben. Ich kramte mein buntes Nadelkissen aus der Tasche und nähte den Knopf an den unteren Rand meines T-Shirts. Er saß neben mir ohne Fragen zu stellen, als wüsste er, dass ich schon seit meiner Kindheit Knöpfe sammle und sofort an meine Shirts nähe. Im Gegensatz zu den grauen Mustermenschen, die mich fassungslos im Bus anstarrten. Wer hat auch schon ein Nadelkissen mit Schleifen und kunterbunten Nadeln bei sich? Und wer näht mitten im Bus bunte Knöpfe an sein Shirt? Ich. Ich war etwas Besonderes. Mit meiner Leidenschaft für Knöpfe hatte ich einen herrlichen Platz zum Verweilen und Wohlfühlen geschaffen: Das Knopfsteinpflaster. Einen Laden voller Leben und Kreativität. Einen Laden für unkonventionelle Kleidung, Träume und Wünsche. Mehr als ein Geschäft. Wie er wohl darauf reagieren würde? Ich hatte ihm einiges zu erzählen…

Das Knopfsteinpflaster: Die Tür zu einer anderen Welt


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Wir stiegen aus dem Bus und machten uns auf den Weg in die Altstadt. Es ist ein wirklich schöner Stadtkern, der Harmonie und Romantik versprüht. Die Gassen sind sehr schmal, aber eben deshalb gemütlich. Die alten und auch etwas krummen Fachwerkhäuser säumen die Gassen und durch die vielen Blumenkästen an den Fenstern und den Efeu an einigen Fassaden, hat man das Gefühl man schlendert durch eine mediterrane Stadt. Selbst jetzt bei prasselndem Regen, vermochten die pastelgelben Hausfassaden einen Hauch von Sommer zu zaubern. Hier in der Altstadt kam ich mir in meinen Flip Flops und meinem Sommerlook nicht mehr so verloren vor. Denn hier war ich zu Hause – nur noch zwei Häuserecken und das Knopfsteinpflaster war zu sehen.


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Die Tür zu meinem Laden ist aus altem Holz und hat verschnörkelte Blumen und Blätter als Muster. Leider war in dem Zeitalter aus dem die Tür stammen musste, keiner auf die Idee gekommen in das Holz Knöpfe zu schnitzen. Wie oft habe ich schon vor dieser Tür gestanden, meine Augen zusammengekniffen und mir vorgestellt, die Blumenranke wäre eine Knopfranke. Mit besonderen Knöpfen natürlich – mit Knöpfen voller Phantasie. „Willst du nicht den Schlüssel in das Schlüsselloch stecken?“ die Stimme des Unbekannten riss mich aus meinen Erinnerungen. Es war furchtbar, ich war wohl die gedankenverlorenste, verträumteste Person die es überhaupt gab. „Klar, tut mir leid.“ antwortete ich verlegen. Immerhin hatte ich es geschafft den Schlüsselbund aus der Tasche zu kramen, aber ich wollte gar nicht wissen wie lange ich schon mit dem Schlüssel kurz vor dem Schlüsselloch gestanden hatte.


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Als ich den Schlüssel rumdrehte, klimperten die vielen Knöpfe an meinem Schlüsselbund. Wie ich es liebte diese Tür zu öffnen. Ich zelebriere diesen Moment jedes Mal und lasse mir Zeit dafür. Schließlich gilt es meine Welt zu betreten und den Alltag hinter sich zu lassen. Solche Momente sollte man nicht an sich vorbei ziehen lassen, sondern in vollen Zügen genießen. Sobald die Tür zu meinem unkonventionellen Reich geöffnet ist, kommt einem ein wohlig warmer Kaffeeduft vermischt mit dem Geruch von Holz und Lavendel entgegen. Eine Mischung die sich vielleicht ungewöhnlich anhört, aber meine Sinne jedesmal angenehm benebelt. Es riecht einfach nach zu Hause und nach vielen langen Gesprächen, nach lautem Lachen und spannenden Geschichten – alles Dinge, die ich meiner liebenswürdigen Kundschaft zu verdanken habe.

Mein Begleiter schien von dem Anblick meines Ladens völlig erschlagen zu sein. Er machte riesige Augen und sein Mund stand offen. Eine Reaktion, die ich schon manchmal erlebt hatte. „Alles klar?“ fragte ich trotzdem nach. Stille. „Hallo...alles klar? Hörst du mich?“ Er schüttelte den Kopf, um sich aus seiner Betäubung zu lösen: „Ja, alles in Ordnung. Aber wo sind wir hier? Das ist doch eine andere Welt.“ Damit hatte er völlig Recht und seine Feststellung erfüllte mich mit Stolz – denn es war tatsächlich eine andere Welt: meine Welt.
Krone

Überall standen alte Möbel, die ich selbst aufpoliert hatte. Eine anstrengende Arbeit, die mich viele Nächte gekostet hat. Dafür erstrahlt das Eichenholz nun in einem satten, glänzenden Braun. Die Polster meiner Couch und meiner Stühle sind rot. In einem majestätischen, kräftigen Dunkelrot, so wie man sich die Farbe der Thronsessel der Könige und Kaiser vergangener Tage vorstellt. Ein kleiner Tisch und meine Couch gleich rechts beim Eingang luden zum Verweilen ein. Dort hatte ich vor drei Stunden mit meiner Freundin Marie einen Kaffee getrunken.


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Die zwei flachen Kaffeetassen aus altem Porzellan standen immer noch da. Auf dem Keksteller in der Mitte lagen nur noch Krümel – die waren ja auch köstlich gewesen und selbstgebacken von Maries Lieblings-Oma, mit einem Himbeermarmeladenklecks in der Mitte.

Außerdem standen in meinem Laden drei uralte Schränke, deren Verzierungen mit dem Stuck an der Wanddecke harmonierten. Die Schranktüren standen offen, so dass man die von mir selbst geschneiderten Kleider sehen konnte. Langweilige Metallkleiderständer und sterile weiße Regale, wie sie für Kaufhäuser üblich waren, konnte man bei mir nicht finden. Eines meiner absoluten Lieblingsteile hing dekorativ an der offen stehenden Schranktür. Es war ein sportliches T-Shirt, verziert mit einer Pusteblume.


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Das sind meine Lieblingsblumen, ich liebe es über Frühlings- und Sommerwiesen zu spazieren und die kleinen Schirmchen durch die Luft fliegen zu lassen. Das erinnert mich an meine Kindheit und erfüllt mich mit kribbelnder Freude in meinem Bauch. Alle Motive meiner Kleidungsstücke sollen die Erinnerung an etwas Besonderes wecken, an Kleinigkeiten die das Leben so lebenswert machen – denn nur so entstehen Lieblingskleidungsstücke. Deswegen setze ich mich oft mit meinen Kunden gemeinsam auf die gemütliche Couch, um zu besprechen wie ihr Kleidungsstück aussehen soll, damit den Stoffen Leben eingehaucht wird.


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Außerdem soll sich jeder Mensch bei mir wie eine Prinzessin oder ein Prinz fühlen. Deswegen habe ich auf den alten, rustikalen Holzdielen des Knopfsteinpflasters einen rubinroten Teppich ausgerollt, der direkt zu einem großen Spiegel führt. Der Spiegel ist umrahmt mit goldenen Schnörkeln und jeder darf sich hier im Mittelpunkt des Geschehens fühlen, auch wenn er oder sie im Alltag eher ein grauer Muster-Mensch ist. Denn jeder Mensch ist wertvoll und egal wie verwirrt und ungeduldig wir Menschen manchmal sind, egal wie schlecht gelaunt und vom Alltag gestresst, man sollte nie vergessen, dass man einmalig ist. Vergisst man das, verliert man auch einen Teil von sich selbst und fühlt sich wie ein gefangener Vogel in einem goldenen Käfig. Manchmal reichen schon kleine, zauberhafte Momente, um die Käfigtür aufzustoßen und der Welt sein eigenes, fröhliches Lied zu singen. Leider vergessen das die meisten Muster-Menschen und bleiben lieber in ihrer grauen Muster-Realität gefangen, verlieren ihre Einmaligkeit und die Möglichkeit nach den Sternen zu greifen.


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Apropos Realität. Da stand doch immer noch der Junge ohne Namen, vor lauter Tagträumerei hatte ich ihn wieder ganz vergessen. „Soll ich uns einen Kaffe kochen und eine Kassette einlegen?“ fragte ich. „Eine Kassette?“ kam erstaunt zurück. „Gibt es so was heute noch?“ „In meiner Welt schon.“ entgegnete ich. „Wieso in deiner Welt? Es gibt nur die eine Welt- die Realität.“ Oh nein, da war es wieder – dieses verhasste Unwort REALITÄT. Konnte man denn nicht einfach die Tür schließen und wenigstens in der eigenen Welt die Realität hinter sich lassen?


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„Hast du Phantasie?“ hakte ich nach. „Was ist das für eine Gegenantwort?“ Bei dieser Entgegnung sah ich es – das Klitzern in seinen Augen war verschwunden. Der Junge wurde zu einem tristen Herrn Mustermann. Die Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, mit der er mich noch vor wenigen Minuten im Bus hatte nähen lassen, war plötzlich fort – blitzschnell verschwunden wie die kleinen Schirmchen einer Pusteblume im Himmel. Auch ihn hatte sie also eingeholt: Die Realität. Trotzdem spürte ich, dass die Hoffnung nicht verloren war...ich hatte es bei unserer Begegnung in seinen Augen gesehen und er hatte mir immer noch nicht seine Geschichte erzählt und ich ihm nicht die meine.

Dabei wusste ich, dass diese Geschichte die Brücke zu seiner Seele war und dass er im Grunde so war wie ich. Er unterbrach meine Gedanken: „Vielleicht sollte ich doch besser gehen – ich weiß nicht ob ich dir das alles erzählen sollte. Ich weiß gar nicht so recht, was ich hier eigentlich mache. Das ist sonst nicht meine Art, tut mir leid.“ Bevor ich antworten konnte, legte er die Knöpfe auf meine Theke und verschwand wieder aus meiner Knopfwelt. So schnell wie er in mein Leben getreten war, lief er nun wieder weg – nicht nur vor mir, sondern mehr noch vor sich selbst. Er hatte einfach zu viel Angst vor dem was er war und vor dem was tief verborgen in den Seelen der Menschen nun mal schlummert. Aber er hatte etwas vergessen – seine auffälligen Kopfhörer, die mehr über ihn verraten mochten, als ihm vielleicht lieb war. Zusammen mit seinem MP3-Player hatte er sie auf das kleine Tischchen neben der Tür abgelegt.


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Noch etwas benommen von seinem schnellen Verschwinden, ließ ich mich damit in meinen Sessel fallen und setzte mir die Kopfhörer auf. Play. Ich schloss die Augen. Die Musik war schön und melancholisch zugleich. Sie handelte von Freiheit und dem Loslassen, was einem manchmal so schwer fällt. Aber ich ließ los und genoss die Musik und in dem Moment wusste ich: er würde wiederkommen und dann, ja dann konnte ich ihm meine Geschichte endlich erzählen.

Tatsächlich hatte ich Recht behalten und nach nur 3 Tagen trafen wir wieder aufeinander. Aber dass es solche Umstände sein würden, damit hatte ich nicht gerechnet. Es war nachmittags und langsam schlich sich die Dämmerung an das Himmelszelt, da flog meine Ladentür mit einem heftigen Schwung auf und er stand mir wieder gegenüber. Sein Gesicht hatte einen völlig verschreckten Blick und er keuchte außer Atem: „Ich muss hier weg! Ich habe den falschen Leuten meine Geschichte verraten. Ich hätte dir alles erzählen müssen, ich war so dumm, ich...“ „Jetzt beruhig dich erstmal.“ erwiderte ich. „Nein, nein..“ er ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen. „WIR müssen hier weg, pack schnell dein wichtigsten Sachen – bitte vertrau mir, wir können nur zusammen gegen DIE ankommen!“ „Wer sind DIE? Und was habe ich mit all dem zu tun?“ hakte ich nach. „Das erzähle ich dir später, bitte vertrau mir. Bitte.“ sein Blick war nervös und huschte ständig zur Ladentür. „Es sind Mustermenschen hinter uns her, aber welche der ganz üblen Sorte, die du dir kaum vorstellen kannst und nur du kannst mir helfen, denn du bist...“ weiter kam er nicht. Es schepperte erneut an der Tür und was jetzt in meinem verspielten Holzrahmen stand, erschütterte mich zutiefst. Ich hatte noch nie ein menschliches Etwas in dieser Art und Weise gesehen – mir stockte der Atem und ich bekam Gänsehaut...

Auf der Flucht vor den Mustermenschen


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Die Mustermenschen im Türrahmen hatten graue Haare, ein graues, langes Gewand an und – das war das Beängstigende – graue Augen. Tiefe Falten und Kerben rahmten ihre Gesichter, selbst ihre Haut war grau – grau, grau, grau – alles so entsetzlich grau! Ein extremer Kontrast zu meiner Knopfwelt und ein verhasster noch dazu. „Wir müssen schnell reagieren.“ rief der Junge. Ich fragte mich nur wie? Denn fünf hoch gewachsene, gruselige Männer blockierten die Tür. Ich hatte das Gefühl sie versperrten nicht nur den Ausgang, sondern auch meine Gedanken und mein Reaktionsvermögen, das hatte diesmal nichts mit meiner Verträumtheit zu tun. Diese Menschen – wenn sie denn überhaupt welche waren – versprühten eine raumfüllende Kühle, die mich keinen klaren, kreativen Fluchtgedanken fassen ließ. Langsam blickte ich nach hinten, dort hin wo der Junge gestanden hatte. Aber was er als Reagieren interpretierte, ließ mich zweifeln, dass wir jemals entkommen würden. Ich zweifelte gerade an allem und jetzt wusste ich welche Kälte diese Mustermänner verbreiteten: es war Hass. Kein normaler Hass, wie man ihn kennt, sondern ekelhafte Abscheu gegen alles Schöne, gegen Knöpfe und gegen diese Welt. Es waren abgestumpfte Männer ohne Seelen, die irgendwie einen Weg in unsere Welt gefunden hatten. Nun wollten sie wohl alles Bunte aus der Erde saugen. Das wurde mir schlagartig klar, aber ich verstand nicht, warum sie gerade bei mir damit anfingen?

All das stürzte mich in eine tiefe Verzweiflung, ließ mich erstarren und pustete alle bunten Knopfgedanken aus meinem Kopf. Ich wollte nur noch weinen, wegrennen – aber ich konnte nicht. Und was machte meine Bekanntschaft in dieser Zeit? Er war zu meinem nostalgischen Telefon mit der rustikalen Wählscheibe gehechtet und schien in aller Seelenruhe telefonieren zu wollen. Dachte er wirklich die Polizei könnte uns jetzt helfen? Selbst ich spürte, dass diese Staatsgewalt nichts gegen die Männer anrichten könnte. Ich wollte nicht, dass das letzte Gespräch auf meinem Telefon ein solches war. Schließlich war auch dieses Telefon ein Stück Flucht aus der Realität. Ich hatte es auf einem Flohmarkt in unserer Straße erstanden. Es stammt aus Zeiten, in denen ein Telefonat noch ein kleines Wunder war.


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Es war aus Holz, in einem warmen Braun mit stoffumwickelten Kabeln, hatte eine bronzefarbene Wählscheibe, trompetenförmige Hörermuscheln und stellte im Gegensatz zu den heutigen Telefonen kein Mittel zum Zweck dar. Es war viel mehr ein Schmuckstück, MEIN Schmuckstück, das mich bei jedem Telefonat in frühere Zeiten versetzte. Deswegen rief ich ein schroffes „Nein!“ zu dem Unbekannten hinüber. „Vertrau mir doch endlich und hör einfach zu!“ entgegnete er mir. Was ich dann vernahm, verwunderte mich. Es flüsterte „Knopfgeflüster“ aus dem Hörer. Genau in dem Moment traten die Mustermenschen gespenstig langsam über die Türschwelle. Was danach alles passierte, konnte ich kaum fassen. Alles geschah in einem Moment, fühlte sich aber trotzdem wie eine Ewigkeit an und war selbst für einen eingefleischten Realitätsfremden wie mich völlig unglaublich.

Sobald nun also die Mustermänner die Türschwelle überschritten, bebte der Türrahmen und auch mein Laden wurde erschüttert. Mir wurde es noch kälter ums Herz und die Verzweiflung erdrückte mich fast. Ich fühlte mich so einsam und alles um mich herum war grau und sinnlos. Im gleichen Moment erstrahlte aber mein gold umrahmter Spiegel heller als je zuvor. Es schien als hätte sich seine Oberfläche in glänzendes Wasser gewandelt. Auch der rubinrote Teppich, der zum Spiegel führte, schien nun aus rotem, strahlendem Wasser zu sein. Im nächsten Moment vernahm ich wieder die Stimme des Unbekannten: „Wir brauchen Verstärkung – stell sofort deine Kleiderpuppen auf den Teppich!!“ „Wie bitte?“ entgegnete ich. „Was sollte das denn bringen?“ – „Ich dachte du hast Phantasie oder bist du doch ein Mustermensch, der sich nur mit einer phantasievollen Hülle schmückt?“ Diese Antwort seinerseits hatte gesessen, ich packte die Kleiderpuppen und stellte sie auf die wasserähnliche Oberfläche des Teppichs. Ich erwartete, dass sie darin versinken würden. Aber das war nicht der Fall – im Gegenteil, sie fingen an sich zu bewegen. Sie schüttelten sich, als ob sie aus einem langen Schlaf erwacht waren. Kaum hatte ich mich versehen, wurden sie lebendig. In dem Moment nahm der Junge meine Hand und sagte zu mir: „Halt mich ganz fest. Wir brauchen Anlauf, dieser Weg aus der Realität wurde schon seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt, es kann also schwierig werden. Aber vertrau mir und renn mit mir zusammen los!“ Zum Fragen stellen war ich zu perplex.


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Wir nahmen also Anlauf und glitten auf der Teppichoberfläche in Richtung Spiegel. Die Mustermänner wurden schneller und wollten uns folgen. Jeder Schritt von ihnen ließ meinen schönen Laden erbeben und meine geliebten Knöpfe fielen aus den Schränken. Es schien als ob es Knöpfe regnen würde. Das machte den Mustermännern zum Glück etwas zu schaffen, es wirkte als hätten sie Angst vor dem bunten Knopfregen. Aber noch besser schlugen sich meine Kleiderpuppen. Zum Leben erwacht, traten sie mit ihren Ständern gegen die Schienenbeine der Mustermänner und sahen dabei auch noch gut aus. Besonders meine Kleiderpuppe mit dem gepunkteten Kleid war in Hochform und wickelte ihre Satinschleife gleich um die Beine von zwei Mustermenschen, die natürlich ordentlich ins Stolpern gerieten. Mehr konnte ich von dem ganzen Tohuwabohu nicht wahrnehmen, denn als wir die Oberfläche des Spiegels berührten, verschwanden wir auch gleich darin.

Hinter dem Spiegel befand sich eine bizarre Wirklichkeit – es sah aus als wären wir noch immer in meinem Laden. Aber die Welt erschien nicht in ihren natürlichen, satten Farben, sondern in Pastelltönen. Alles war viel matter als zuvor – wie ein ausgeblichenes, altes Bild. Im Laden standen zwei Stühle auf dem rubinroten Teppich vor dem Spiegel. An ihnen waren quietschgelbe Luftballons befestigt, die mich gleich an die gelben Kopfhörer des Jungens erinnerten und sich von den matten Farben wunderbar abhoben. Ich hatte also Recht, diese Kopfhörer hatten vielmehr über ihn verraten als er gedacht hätte. Aber dass er in diesem Sinne die Realität hinter sich lassen konnte, hätte ich nie gedacht. „Wir müssen uns auf die Stühle setzen!“ meinte er. „Erst dann sind wir in Sicherheit.“ Ich war noch immer sprachlos, also nahm ich Platz. In diesem Moment begannen auch die Stühle sich zu schütteln. Das machte mir schon ein wenig Angst, wenn ich daran dachte was für eine Kraft meine Kleiderpuppen entwickelt hatten. Doch unsere Stühle warfen uns zum Glück nicht ab und versetzen uns auch keine Tritte. Sie ließen ein zartes Wiehern verkünden und die Luftballons zogen uns nach oben. Durch die Decke meines Ladens konnten wir in dieser bizarren Welt hindurch gleiten. Die nette, alte Dame, die ihre Wohnung über meinem Laden hatte, saß gerade an ihrem Kaffeetischchen und trank einen Tee, als wir an ihr vorbeischwebten. Ich war mir nicht sicher, ob sie uns sehen konnte. Denn noch immer wirkte alles wie ein surreales Abbild der Wirklichkeit. Aber ich bildete mir ein, dass sie kurz in unsere Richtung blinzelte – doch dann trank sie weiter ihren Tee, als ob nichts gewesen wäre.


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So schwebten wir an der gesamten Nachbarschaft vorbei, bis wir endlich über dem Dach des Hauses waren. Die Ballons versprühten während unserer Fahrt lauter kleine Knöpfe über den stahlblauen Himmel. Der sanfte Wind trug uns Richtung Osten und der Junge holte eine Spraydose aus seiner Jackentasche. Als er auf das Ventil drückte, kamen daraus lauter kleine Blumen geflogen. Wahrscheinlich markierte er uns so den Weg – vielleicht mussten wir irgendwann wieder zurück in die Realität. Ich wusste es nicht, aber ich war so benommen von dieser Reise, dass ich keine Fragen mehr stellte. Außerdem hatte auch er es damals wortlos hingenommen, als ich im Bus Knöpfe an mein Shirt nähte. Und wahrscheinlich war das alles hier, in der Welt hinter dem Spiegel, das Normalste überhaupt.


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Einige Blumen aus der Spraydose wollten nicht an ihrem Platz im Himmel bleiben, folgten uns und bildeten schließlich eine wundervolle Schleife an meinem Knopfstein-Shirt. Es war wunderschön und ich fühlte mich so frei wie lange nicht mehr. Ich fragte mich, wo wir landen würden und was uns dort erwartete. Besonders gespannt war ich auf die Geschichte des Jungens, dessen Namen ich noch immer nicht kannte. Mitten in meinen Gedanken merkte ich erst nicht, dass die Stühle wieder zu rütteln begannen. Was jetzt wohl passieren würde?


Florianus' Geschichte


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Nach einem erneuten Rütteln, sausten die Stühle plötzlich völlig haltlos nach unten. Ich hatte solche Angst, was würde uns dort erwarten – waren wir wirklich weit genug fort von den Mustermenschen? Dieses Gefühl von Schwerelosigkeit auf den nun wild wiehernden Stühlen machte mir ordentlich zu schaffen, wir mussten doch irgendwann anhalten. Gab es denn keine Fallschirme an diesen zwei seltsamen Gefährten?

Der Junge nahm meine Hand, wahrscheinlich hatte er genauso viel Angst wie ich. Und dann konnte ich es unter mir erblicken – eine wunderschöne, saftig grüne Wiese. Aber an ihrer Schönheit konnte ich mich nicht lange laben, denn die Stühle stoppten noch immer nicht ihre Geschwindigkeit. Kurz vor dem Aufprall gab es einen riesengroßen Knall: „Plopp!“ und die fliegenden Sitzmöbel lösten sich auf, aber auch das Tempo von mir und dem Jungen wurde abrupt abgebremst und wir landeten ganz sanft auf der frischen Wiese. Ich fühlte mich danach als wäre ich im Vergnügungspark gewesen und hätte ich dort den „Freien Fall“ gerade so überlebt. Mein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub und ich musste mich erst einmal auf die Wiese legen und die Augen schließen. Ich blinzelte noch einmal zu dem Jungen hinüber, er tat es mir gleich und legte sich nieder. Ich konnte die Lider nicht mehr offen halten, sie wurden schwer wie Blei und mich überkam eine unheimliche Müdigkeit. Es roch so schön nach Blumen und das Gras war weich wie ein Bett...ich schlief ein.

 Plötzlich wurde ich von etwas Feuchtem geweckt, erst kitzelte es meine Nase, dann knabberte es an meinem Ohr und als ich meine Augen noch immer nicht aufschlagen wollte, wurde mein Gesicht plötzlich von oben bis unten von einer ordentlichen Schlabberzunge abgeleckt. Erschrocken öffnete ich die Augen und erwartete eine dicke, große Kuh vor mir. Aber nein das was mich erwartete war keineswegs von der Statur und Größe einer Kuh, nur die Schnauze hatte etwas Ähnlichkeit. Vor mir saß ein Hund mit großen Fledermausohren, treuen Kulleraugen und – was sehr ungewöhnlich für einen Hund war – einem geschmückten Geweih.


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Noch erstaunlicher war es, als aus dem Mund des Vierbeiners Wörter kamen: „Um Himmels Willen – ist das schwierig dich wach zu bekommen. Also wenn du immer so tief und fest schläfst, verträumst du noch das Leben und damit meine ich das wunderschön-bunte Leben in dieser Welt! Das sollte man sich nun wirklich nicht entgehen lassen.“ Der Junge neben mir schmunzelte mich mit wachen Augen an. Das war mir nun schon etwas unangenehm und deswegen wollte ich besonders nett zu dem Tierchen sein: „Tut mir leid, lieber Mops, aber ich...“ weiter kam ich nicht, scheinbar hatte ich den Hund erbost. „Wie bitte – Mops!“ knurrte er. „Ich bin kein Mops, ich bin eine Französische Bulldogge! Mich hat keiner mit einer Bratpfanne mitten im Gesicht getroffen und schau dir meine stattlichen Ohren, meinen putzigen Stummelschwanz und erstrecht meine Muskeln an – sieht das aus wie ein Mops?“ Was sollte ich jetzt antworten, ich machte einen Versuch: „Also das war ja nicht böse gemeint...ich finde den Mops als Hunderasse eigentlich sehr süß und deswegen dachte ich...also du bist natürlich viel hübscher...“ Der Junge neben mir konnte sich in dem Moment nicht mehr halten und fing an sich vor Lachen auf der samtig weißen Wiese zu kullern. „Schon gut.“ entgegnete der Bully. „Ich bin übrigens Emmi und Flori hatte Heimvorteil, er kennt mich schon länger.“ „Ich bin Lena.“ Mit einem hämischen Blick zu Flori fügte ich hinzu: „Schön, dass ich deinen Namen nun auch mal erfahren darf!“ „Gern geschehen.“ bekam ich grinsend zurück. „Außerdem hast du mir wohl noch einiges zu erzählen! Wo sind wir überhaupt?!“ fuhr ich fort. „Wo wir sind erkläre ich dir später, aber du hast allerdings Recht, meine Geschichte sollte ich dir unbedingt erzählen. Der Anfang liegt schon sehr lange zurück, ich weiß nicht ob ich das alles wieder zusammen bekomme. Vielleicht kann Emmi mir bei dieser Geschichte behilflich sein.“ Als Antwort bekam er nur einen dicken Schlabber-Schlecker über sein ganzes Gesicht gezogen.

„Mein eigentlicher Name ist Florianus, ich habe diesen Namen nur stets dem Zeitalter angepasst in dem ich unterwegs und auf der Suche war. Das ist lateinisch und steht für ,der Mächtige’ und genau das war ich auch vor Jahrtausenden. Ich habe über das Reich der Phantasien geherrscht – bis ich es mit dem Regieren etwas, wie soll ich sagen, zu ernst genommen habe und mir sind schlimme Fehler unterlaufen, die vielen Menschen das Leben gekostet haben.“ Seine Stimme brach kurz ab und er senkte den Kopf, doch schnell fasste er sich wieder. „Ich habe dafür keinerlei Mitleid verdient und ich kann momentan auch noch nicht über all das sprechen. Auf jeden Fall wurde ich letztendlich aus dem Reich der Phantasien ausgestoßen und lebte fortan unter euch Menschen. Dort fing ich an zu vergessen, mein Herz, was ich mir selbst gebrochen hatte, heilte. Aber ich begann auch immer mehr zu vergessen wer ich war. Manchmal bei glitzernden Sonnenstrahlen, saftgrünen Wiesen oder fröhlich lachenden Kindern erinnerte ich mich. Es war nur ein Aufblitzen, wie ein kleiner Funke, aber er entfachte kein Feuer mehr. Sondern zerplatzte wie eine Seifenblase. Die einzige Verbindung, die mir zu meiner Vergangenheit blieb, war mein Name. Als er nicht mehr zeitgemäß war, änderte ich ihn in Florian oder eben Flori. An schlechten Tagen wurde ich in eurer Welt zu einem Mustermensch und im Nachhinein wird mir bewusst, dass eure Welt es mir gleich tat und immer grauer wurde.“ Emmi stupste Flori an und sagte: „Du hast etwas vergessen – noch eine Erinnerung an deine Vergangenheit. In den 90ern hatte ich solche Sehnsucht zu dir, dass ich eine Kamera auf die Erde schickte...“


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„Stimmt.“ erinnerte sich Flori mit einem verklärten Blick „Sie war in ein quietschgelbes, mit bunten Blumen besticktes Paket eingepackt. Als ich das Päckchen in den Händen hielt, überkam mich diese wohlige Wärme – es war einer dieser aufblitzenden, goldgelben, saftigen Momente. Und alles was ich mit der Kamera fotografierte, offenbarte Details, die das bloße Auge nicht sehen konnte. Es waren Details der Phantasie und wenn ich Menschen damit ablichtete, konnte ich ihr wahres Ich sehen. Entweder es war grau und düster oder es war in demselben quietschgelb wie das Päckchen. Dank dieser Kamera fing ich wieder an mich zu erinnern, aber manchmal quälten mich meine Gedanken so sehr, dass ich die Kamera jahrelang nicht benutzen konnte und mich lieber der grauen Einheitsmasse unterordnete.“ „Du hast Lena auch einmal fotografiert.“ sagte Emmi ganz leise. „Wen habe ich abgelichtet?“ „Lena!“ „Mich?“ das gruselte mich nun schon ein wenig – kannte mich Flori etwa schon länger und war er mir gefolgt? „Das weiß ich nicht mehr!“ rechtfertigte er sich. „Doch hast du.“ erwiderte Emmi sanft. „Du erinnerst dich nicht mehr, wie an so vieles. Was man alles für schöne, strahlende Momente in der grauen Welt vergessen kann...das macht mich manchmal traurig. Du hast mir das Bild gesendet. Es war Lena im Pavillon des Stadtparks. Es war Herbst und sie noch ein Kind, mit zwei lustigen Zöpfen am Kopf. Sie hatte ein sonnengelbes Kleid an, mit dem sie versuchte das von den Bäumen fallende Laub aufzufangen – wie ein kleiner Sterntaler. Auf deinem Photo umgibt sie ein wohliges Gelb und statt der Blätter, fängt sie sterngleiche Knöpfe. So etwas hatte deine Kamera nie zuvor gezeigt. Du hast mir damals aufgeregt davon geschrieben und das Photo beigelegt. Du meintest ich soll dich irgendwann einmal daran erinnern, weil es eine faszinierende Begegnung war und bei ihrem Anblick so viele Erinnerungen in dir hoch kamen, was du dir nicht recht erklären konntest. Du wusstest nur: Es musste etwas mit deiner Vergangenheit und vielleicht sogar mit unser aller Zukunft zutun haben.“ Flori zog die Stirn in Falten: „Ich erinnere mich nicht – selbst jetzt nicht!“ „Vielleicht ändert sich das, wenn wir die Phantasiewelt wieder betreten...“ weiter ließ ich Emmi nicht kommen. Was sollte das alles? War ich hier irgendein Objekt, ein Spielball? Wieso gab es ein Bild von mir, was ich nicht kannte...einfach von einem Fremden fotografiert, der nicht einmal aus meiner Welt stammte. „So geht es nicht weiter!“ brach es aus mir heraus. „Ich weiß immer noch nicht mehr, außer dass ich scheinbar von euch beschattet wurde. Was soll das?“ „Es tut mir leid.“ sagten beide im Chor und Flori erhob diesmal zuerst das Wort: „Ich kann dir leider auch nicht viel mehr erzählen, weil ich so vieles nicht weiß und Emmi in viele Dinge damals nicht eingeweiht wurde. Das Einzige was wir beide wissen, oder besser spüren, ist dass du im Krieg eine entscheidende Rolle einnehmen wirst.“ „Krieg?“ Das verwirrte mich noch mehr. „Was denn für ein Krieg? Es herrscht Frieden in meiner Welt, schon seit langer Zeit!“ „Nicht mehr lange...“ erwiderte Emmi gedrückt. „Die Mustermenschen, die du ja nun auch kennengelernt hast, wollen deine Welt zerstören und damit auch die Phantasiewelt. Sie wollen den Menschen ihre kreativen Gedanken rauben und ein Reich der Bürokratie errichten. Das alles wird in Form eines Zettelkriegs geschehen, die Menschen müssen immer mehr ausfüllen, Vorschriften beachten und darüber hinweg werden sie ihre schönen Gedanken verlieren.“

Das alles musste ich erst einmal verkraften, nach einigen Minuten der Stille fragte ich nach: „Was sollen wir tun?“ „Wir müssen die Phantasiewelt betreten.“ entgegnete Emmi. „Noch befinden wir uns in einer Zwischenwelt.“ „Na dann los, schließlich habe ich mir schon immer mehr Phantasie in der Welt gewünscht und nicht die komplette Zerstörung dieser!“ „So einfach ist das nicht.“ bekam ich zurück. „Wir müssen das Tor zur Phantasiewelt öffnen und das kann nicht jedes Mal auf die gleiche Weise geschehen. Es muss immer ein anderer, kreativer Lösungsansatz gefunden werden. Aber du hast Recht – wir sollten keine Zeit verlieren, was wir genau tun müssen, erfahren wir sowieso erst, wenn wir dort angekommen sind.“ Emmi schüttelte in diesem Moment ihr Geweih und es erklang eine wunderbare Melodie. Im nächsten Moment schnallte sich ein pompöser Schlitten auf ihren Rücken. Das erklärte wohl auch ihr Geweih – sie schien so etwas wie ein Rentier zu sein. Aber was es genau damit auf sich hatte, wollte ich in diesem Moment gar nicht wissen, ich hatte für diesen Tag genügend Neuigkeiten erfahren.

Eine erschreckende Erkenntnis


Die Fahrt in Emmis Rentierschlitten war entspannter als gedacht, kein Vergleich zu den unbequemen, hölzernen Stühlen unseres vorigen Fluges. Von hier oben konnte ich über die endlos schöne, weite Wiese schauen, auf der ich gelegen hatte. Ich erkannte Blumen, die ich vorher noch nie erblickt hatte. Sie waren kunterbunt und hatten die Form von kleinen Windrädern. Dann durchbrachen wir das Wolkendach und wurden von weißem, wohlriechendem Nebel umhüllt. Es war verrückt – es fühlte sich alles wie fliegen an. Nur ohne diese behäbige, schwere Flugzeughülle, die einen das Geschehen in der Luft gar nicht spüren lässt. So konnte ich in dieser Traumwelt, in der man selbst in den höchsten Höhen des Himmels noch problemlos Luft schnappen konnte, nach den Wolken greifen – im wahrsten Sinne des Wortes. Der weiße Nebel fasste sich ganz feucht an und kitzelte auf meiner Haut. Außerdem hinterließ er auf uns allen kleine Wassertropfen. Als wir die Wolken durchbrochen hatten und nur noch blauer Himmel sowie Sonnenschein zu sehen war, der sich in den Kondenströpfchen an Emmis Geweih und Floris Nasenspitze spiegelte, bekam ich tausende Schmetterlinge im Bauch. Ich fühlte mich so losgelöst und so frei wie noch nie. So müssen sich Vögel fühlen, wenn sie ihre Flügel ausbreiten und ihre Reise über den Wolkendächern dieser Welt antreten. Der Traum vom Fliegen – er fühlte sich noch viel schöner an als in meinen kühnsten Träumen.

 Der Flug ging unheimlich schnell vorbei und schon sah ich uns, im Kamikaze-Sturzflug, landen. Hätte ich hier nicht schon so viel miterlebt, wäre mir Angst und Bange gewesen. Doch das „Freie Fall“-Gefühl hatte ich ja vor Kurzem schon einmal erlebt und ganz ehrlich, ich wollte die Flugkünste von einem Bully mit Geweih nicht hinterfragen – wo hätte ich da anfangen sollen?


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Wir landeten auf einer märchenhaften Lichtung. Hinter uns lag ein dichter Wald, den wir dank Emmi nicht durchqueren mussten. Er bestand aus allerlei verschiedenen Bäumen, jedoch nicht den üblichen Laubgewächsen und Tannen, die man in unserer Welt kennt, sondern aus viel phantasievolleren Gewächsen. Es schien so als ob es in dieser Welt für einen Baum nicht angemessen kreativ gewesen wäre, einfach nur gerade in die Höhe zu wachsen, um das Licht zu erreichen und Photosynthese zu betreiben. Vielmehr glich der Wald einem Wettbewerb darum, wer die meisten Schnörkel und Formen beim Wachsen hervorbringt. Aus diesem Grund waren die Stämme und Äste ineinander verschlungen und ähnelten mal hier gedrehten Zuckerstangen und mal dort Sternen, Herzen und Kreisen. Um Sonnenlicht mussten sich die Bäume dieser Welt keine Sorgen machen. Denn selbst aus dem Boden traten Sonnenstrahlen hervor – es ähnelte einer typischen, optischen Täuschung im Sommer auf den Straßen. Es war ein angenehmes Flimmern auf dem Boden und einige Strahlen wurden in den Himmel zurück geworfen. Als ich noch genauer hinsah, erkannte ich, dass sich um die Bäume nicht etwa Efeuranken schlängelten, sondern grüne Wasserschläuche, die alles um sich herum mit Wasser versorgten. Aber nicht nur erfrischendes Nass trat aus ihnen hervor, sondern ebenso Hummeln, Bienen und Schmetterlinge. Das ganze Leben des Waldes war diesen Wasserschlauch-Gewächsen zu verdanken – es war faszinierend und ich konnte meinen Blick nicht von diesem Wald lösen. Ich wollte unbedingt noch mehr kleine Wunder voller Phantasie darin entdecken, doch dann wurde ich etwas unsanft von Emmis Geweih angestupst.

„Du bist eine Tagträumerin, das mag ich!“ sagte sie. „Warum ist diese Welt so voller Phantasie und voller Dinge, die ich mir nicht in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hätte?“ entgegnete ich ihr. „Das liegt daran, dass hier nie der Optimismus, der Glaube an Etwas und die Kreativität verloren gingen. In eurer Welt wurde bisher alles hinterfragt, alles erforscht, alles statistisch bewiesen. Wo bleibt da noch der Freiraum für Phantasie und für Glauben, wenn einem sofort Zahlen und Daten vorgelegt werden, die das Gegenteil beweisen und die angeblich nüchterne Realität zum Vorschein bringen? Lena, hast du dich nie gefragt was diese Realität ist? Was wäre wenn die Realität auch nur ein erdachtes Konstrukt ist oder hast du die Leute selbst gefragt oder die Forschungsergebnisse selbst herausgefunden? In eurer Welt legen die Mustermenschen allerlei Erklärungen vor, die einfach jeder glaubt und als Tatsache akzeptiert – ohne Dinge wirklich zu hinterfragen. Das ist der Grund warum Erwachsene so anders sind als Kinder und so selten ehrlich lachen können. Sie sehen die Welt mit der Schablone, die ihnen davor gehalten wird. Kinderaugen sehen ganz andere Sachen. Sie sind sich ganz sicher, dass es keine Efeuranke ist, die sich um einen Baum schlängelt, sondern ein Wasserschlauch, der Insekten versprühen kann. Aber auch ihre Phantasiewelt wird irgendwann von all diesen Pseudo-Tatsachen ausgelöscht und was bleibt? Wer akzeptiert denn ein kindliches Gemüt und welcher Mensch könnte in eurem Alltag überleben, würde er sich dieser Welt verschreiben?“ „Das stimmt.“ erwiderte ich geknickt, obwohl ich bisher immer überzeugt gewesen war ein phantasievoller Mensch zu sein, der mehr sieht als graue Mustermenschen, war ich doch ein Gefangener meiner Realität beziehungsweise der Realität, die mir die Welt vorgaukelte. Es war erschreckend, all das zu hinterfragen und ich wusste nicht mehr ob das an was ich immer geglaubt hatte, tatsächlich wahr oder falsch war. Aber klar – natürlich ist es bequemer keine Fragen zu stellen und sich einfach dem Mustermenschen-Rhythmus anzupassen.


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Wer möchte schon ständig anecken oder am Ende noch in der Psychiatrie enden, weil er die bestehende Realität nicht anerkennt. „Das ist verwirrend und erschrecken, oder?“ Emmi konnte meine Gedanken lesen und auch Flori bestärkte mich darin: „In der Zeit, in der ich mich in eurer Welt befand, habe ich auch ganz viel von meiner Phantasie verloren, ein Grund weshalb ich mich an so wenig erinnern kann. Fast jeder strebt nach den gleiche Zielen: guter Job, Geld, Familie, sichere Rente. Es ist ein Kreislauf voller Erwartungen und wer sich dem Anspruch der Gesellschaft nicht fügt, der wird nahezu ausgesondert, nicht mehr akzeptiert, für verrückt erklärt. Da kann man schwerlich ausbrechen oder an etwas Höheres, Besseres glauben. Und irgendwann stirbt man dann und hatte ein Leben, was vielen anderen gleicht. Es gibt so viele Indizien in eurer Welt dafür, dass dieses Prinzip eigentlich nicht funktioniert und dass die Beantwortung von Fragen so oft Glauben, der Berge versetzen kann, erstickt. Aber dank der Mustermenschen, die diesen Kreislauf immer mehr vorantreiben, will diese eigentliche Realität keiner mehr wahr haben oder sie wird verleumdet. Mir hat das bei euch Angst gemacht – unnatürliche Angst und Druck, den ich vorher nie verspürt habe. Erst versuchte ich mich zu wehren und mir selbst mit Photos voller Phantasie zu beweisen, dass es diese andere Welt noch immer gibt. Ich stieg am liebsten in farbenprächtigen Heißluftballons nach oben, um auch räumlich Abstand zu gewinnen, nach den Wolken zu greifen und mich endlich wieder schwerelos zu fühlen. Aber von Tag zu Tag, Minute zu Minute und Sekunde zu Sekunde fiel es mir schwerer. Diese graue Masse erdrückte mich und ich gab langsam nach und vergaß. Ich gebe es zu – ich wollte vergessen, weil ich das alles nicht mehr ertragen konnte.“

Bis jetzt hätte ich mir nicht vorstellen können, dass diese Reise eine solche Wendung nehmen würde. Ich hatte gedacht wir besiegen mit unserer Phantasie die Mustermenschen und ich lasse mich einfach auf ein wundervolles, unvergessliches Abenteuer ein, um dann glücklich und erleichtert wieder in meinem Knopfsteinladen anzukommen. Dann würde ich später meinen Kindern und Enkelkindern von meiner phantastischen Reise berichten und wir würden uns gemeinsam an meinen spannenden Erlebnissen erfreuen. Aber nun begriff ich erst, dass es viel mehr war und dass ich, wenn ich zurückkehrte, nie mehr dieselbe sein würde.

 Flori und Emmi schienen wieder einmal meine düsteren, ziellosen Gedanken zu erahnen und fingen wieder an sich auf unser Ziel zu konzentrieren. Flori meinte zu mir: „Siehst du das Tor vor uns?“ Ich drehte mich herum, tatsächlich hatte ich alles um mich herum vergessen und nahm die riesengroße, goldene Pforte erst jetzt wahr. Das Tor war mindestens zehn Meter hoch, war ziemlich kitschig verschnörkelt und trug eine goldene Inschrift, sie erinnerte mich an etwas. Ich kam nur durch das Wirrwarr in meinem Kopf nicht mehr darauf. Da war plötzlich eine völlige Leere. „Müssen wir da rein?“ „Ja!“ antworteten beide im Chor. Emmi ergänzte: „Wir müssen allerdings ein Rätsel lösen damit es sich öffnet und dazu bist du der Schlüssel. Vielleicht hilft es die Inschrift erst einmal zu entschlüsseln, das vermag nur eine Person aus deiner Welt!“ Ich war perplex. Mir lag ganz klar etwas auf der Zunge und irgendwo hatte ich die Schrift doch schon einmal gesehen? Aber wo? Wieso waren meine Gedanken so grau und so vernebelt. Emmi und Flori setzten alle ihre Hoffnungen in mich und schauten mich erwartungsvoll an. „Ich...ich...ich weiß es nicht.“ brachte ich hervor. „Ich kann mich nicht erinnern, diese Reise, die Erkenntnis – mir ist das alles zu viel, ich kann so nicht mehr denken.“ Plötzlich hörte ich ein Knattern aus dem Wald. Was war das? Als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass die efeuähnlichen Wasserschläuche plötzlich kaum noch erfrischende Tropfen hervorbrachten, als würde irgendetwas ihre Düsen verstopfen. Es war ein schrecklicher Anblick, es wirkte als würden sie ersticken und es kamen nur leblose Hälften von Schmetterlingen, Hummeln und Bienen aus ihnen heraus. „Oh nein.“ rief Flori. „Das kann nur bedeuten, dass die Mustermenschen in unsere Welt eingetreten sind. „Wir müssen uns beeilen. Benutz deine Phantasie!“ Aber ich hatte keine mehr. Ich war völlig verzweifelt, leblos, versteinert und konnte nur daran denken was nun wirklich Realität war und was nicht.


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Plötzlich spürte ich etwas in meiner hinteren Hosentasche, es piekste mich regelrecht in meine rechte Pobacke. Als ich danach griff, hielt ich eine Kassette in der Hand. Wie war sie dort hingekommen? Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, bemerkte ich wie der Tonträger ganz warm wurde. Diese Wärme strömte nun auch durch meinen Körper – es fühlte sich nach zu Hause an und nicht mehr nach tausend Fragen. Und in meinen Kopf schossen plötzlich Bilder, schöne Bilder von Dingen, die ich so gern mochte. Von Eis, Cupcakes, Vögeln mit weit ausgebreiteten Schwingen, Musik, Kirschen, Liebesbriefe und noch vieles mehr. Plötzlich spürte ich wieder Hoffnung und den unerschütterlichen Glauben an meine andere Welt, die bunter und stärker war als die Realität. Brachte mich diese Kassette tatsächlich der Lösung ein Stück näher? Konnte ich doch der Schlüssel sein, der dieses mächtige Tor öffnen würde?



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"Erinnerst du dich noch an die Geschichte, die ich dir in meinem Laden erzählen wollte?" fragte ich Flori. Noch bevor er mit gerunzelter Stirn antworten konnte, begann die Kassette in meiner Hand zu vibrieren und zu hüpfen. Wir waren alle drei zu perplex, um auf meine Frage näher einzugehen. Umso mehr wir allerdings den verrückten Tanz des Tonträgers verfolgten, umso langsam wurde er auch. Bis die Kassette schließlich wieder leblos auf dem Boden zusammenbrach. "Was war das denn?" brachte ich als erste hervor. "Keine Ahnung." antworteten Flori und Emmi im Chor. "Lass uns die Kassette noch einmal genauer untersuchen." Das taten wir nun auch. Was wir alles versuchten! Wir stupsten den noch vor Sekunden mit Leben gefüllten Gegenstand an, versuchten ihn auf der Wiese aufzustellen, ihn zum Tanzen zu motivieren, ihm leise zuzuflüstern - vergeblich, vergeblich und nochmals vergeblich. Wir wussten einfach nicht was ihn zu diesem Freudentanz angeregt hatte. Schließlich meinte Flori: "Nun, es scheint alles keinen Sinn zu machen. Vielleicht konzentrieren wir uns lieber wieder darauf dieses Tor aufzubekommen." "Stimmt!" erwiderte ich. "Wo waren wir stehen geblieben?" "Du wolltest mir gerade etwas erzählen, etwas, dass du mir schon in deinem Laden berichten wolltest." "Ja genau, es ging um die Knöpfe, die du bei unserer ersten Begegnung dabei hattest." Just in dem Moment ging es wieder los, die Kassette, die ich mittlerweile wieder in meine Hosentasche gesteckt hatte, versuchte sich aus dieser herauszukämpfen. Sie zappelte und wurde warm. Scheinbar hatte es etwas mit meiner Geschichte zu tun.

Und auch ich empfand plötzlich eine riesige Lust loszutanzen, meine Seele baumeln zu lassen und mich wie ein Kind zu fühlen. Meine Lippen summten ein Lied, die Melodie wandt und hüpfte durch meinen ganzen Körper. Es war ein Lied aus Kindheitstagen, das mir meine Oma oft vorgesungen hatte. Dabei sprang ich stets wie wild auf dem Bett herum und alle kindlichen Sorgen, die ich zu diesem Zeitpunkt hegte, fielen scheinbar mit jedem neuen Sprung von mir ab.

Meine Oma hatte natürlich bereits in meinen Kindheitstagen meine Affinität für Knöpfe entdeckt und immer wenn es möglich war, entstanden lustige, aufmunternde und manchmal auch traurige Geschichten, die sich um die runden Nähutensilien drehten. Ebenso meine Spielsachen waren reichlich mit Knöpfen verziert - sei es das Mützchen vom Kasperle, die Augen vom Teddy, meine Federtasche und vor allem mein Fahrrad. Da meine Oma auf dem Land lebte und oft auf dem Feld zu tun hatte, fuhr ich fast täglich mit dem Fahrrad, um sie zu unterstützen. Ich liebte es den großen, bunten Korb mit Kartoffeln, Ähren, Sonnenblumen und vielem mehr, was man auf den Feldern fand, zu füllen. Damit auch wirklich jeder wusste, dass es sich hier um mein Fahrrad handelte (wie offensichtlich das ohnehin war, kann man sich bei meinem Charakter ja denken), hatten wir ein kleines Etikett mit "Lena" am Lenker befestigt. Wie ich mir im Geiste so mein schönes Fahrrad heraufbeschwor, klingelte es plötzlich. Ich zuckte zusammen, das hörte sich doch genauso an wie mein altes Rad! Ich drehte mich um und es war unfassbar - es stand vor mir. Genauso wie ich es in Erinnerung hatte, ich war fassungslos. In dem Moment führte die Kassette einen zusätzlichen Freudentanz auf und sprang in den Fahrradkorb, in dem ein Strauß nach Sommerfeldern duftenden Ähren lag.

"Das, das ist das Fahrrad, was ich mit einem der Knöpfe verziert habe, den du mir damals gezeigt hast. Siehst du ihn - dort beim quietschgelben Lenker?"

"Wolltest du mir das gerade erzählen, bevor du gedanklich scheinbar in eine Traumwelt abgeschwiffen bist?" meinte Flori zu mir. Auch Emmi drängte mich: "Wir müssen uns beeilen und dieses Tor aufbekommen, die Mustermenschen sind uns sicherlich schon dicht auf den Fersen." "Aber scheinbar bewirken meine Tagträume etwas! Denn immer wenn ich an meine Kindheit zurück denke und mich in die fröhlichen Momente dieser Zeit zurück versetze, passieren wunderliche Sachen und die müssen alle etwas mit der Lösung des Rätsels zu tun haben....und den Knöpfen! Alle Knöpfe, die Flori damals in der Hand hielt, waren meine Lieblingsknöpfe zu dieser Zeit." "Aber hattest du nicht tausende Lieblingsknöpfe, Lena?" Flori war sehr skeptisch und runzelte seine Stirn. "Hallo?" rief ich empört. "Lass mich doch erstmal ausreden! Du wirst hier wieder zum erwachsenen Standardmenschen. Muss ich dich wirklich daran erinnern wo wir hier sind? Denkst du wir öffnen dieses Tor mit Hilfe eines quadratischen Gleichungssystems?" Flori verstummte, er wusste ich hatte Recht. Er hatte einfach schon zu lange alleine in dieser trostlosen Welt ohne Phantasie gelebt. Es fiel ihm sichtlich schwer sich wieder diesem wundersamen Ort anzupassen und einfach mal ein Querdenker zu sein. Komischerweise war es für mich ein Kinderspiel - ich fühlte mich hier wie zu Hause, wie in meinem Knopfsteinladen. "Wir sollten ihr vertrauen, sie ist nicht ohne Grund hier. Sie hat Recht." meinte Emmi "Erzähl weiter von deinen Lieblingsknöpfen! Warum sind gerade diese drei so wichtig für dich?" "Also, es sind meine Lieblingsknöpfe, weil sie mich schmerzlich an das Verschwinden meiner Oma erinnern. Nagut, was heißt verschwinden.


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Sie ist einfach gestorben, wie es eben der Lauf der Dinge ist. Aber ich habe es damals nicht verkraftet, nicht daran geglaubt und deswegen haben meine Eltern mir gesagt sie sei einfach nicht mehr aufgetaucht. Mir wurde erst später bewusst, dass sie mir nicht die Wahrheit sagen konnten. Mehr möchte ich jetzt dazu nicht sagen, ich habe euch genug erklärt. Auf jeden Fall war einer dieser Knöpfe an meinem Fahrrad - ein kleiner Holzknopf in Form eines Herzens. Den anderen Lieblingsknopf habe ich auf einer Reise mit meiner Großmutter auf einem orientalischen Basar entdeckt. Er war gold mit einer fremdländischen Inschrift. Wir wussten beide nicht was es heißt, aber der Knopf zog uns in diesem Urlaub einfach magisch an. Ich habe ihn ganz lange in meiner kleinen Geldbörse aufgehoben und eines Tages, als meine Oma so traurig war, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte, schnappte ich mir ihre Lieblingsschürze und nähte den Knopf daran. Ich gab ihr die Schürze und sagte sie solle sich immer an die schönen Dinge im Leben erinnern. Damit konnte ich sie wenigstens ein wenig zum Lächeln bringen, sie muss etwas sehr schlimmes erlebt haben, was sie mir jedoch nie erzählt hat." Das Fahrrad unterbrach meinen Monolog und klingelte wie verrückt und die Wasserschlauch-Bäume spritzten so viel Wasser, dass wir nass wurden. Diesmal war es aber kein gutes Zeichen - denn wir entdeckten die Mustermenschen am Himmelszelt. Das Wasser der Bäume verschreckte sie nicht - die Strahlen wurden wie von einer magischen Aura weg geleitet. Begleitet wurden diese grauen Gestalten von furchteinflößenden Gewitterwolken. Ich fuhr schnell fort:"Und der dritte Knopf befand sich an meinem Lieblingskuscheljacke ich hatte natürlich viele Knöpfe daran. Aber als typischer Wildfang verlor ich immer wieder welche - außer diesen einen, der auf wundersame Weise stets an meiner Seite bleib. Deswegen befestigte ich ihn irgendwann in der Nähe meines Herzens und verzierte ihn auch mit einem solchen. Dabei wusste ich zum ersten Mal ganz sicher: ich werde später genau so etwas machen. Kleidungsstücken Leben und Liebe einhauchen." Als ich das letzte Wort aussprach, landete dieses Kleidungsstück auf meinen Schultern und ich hatte alle meine drei Lieblingsknöpfe zusammen.

Doch was sollte ich jetzt tun? Die Mustermenschen kamen immer näher, die Gewitterwolken grollten, ich konnte meine Gedanken nicht ordnen. Automatisch begann ich einen typischen Zug aus meiner Kindheit zu übernehmen. Ich summte das Lied von meiner Oma auf meinen Lippen. Fahrrad, Kassette und Jacke begannen zu zucken und zu tanzen, bildeten eine Reihe und hopsten auf das Tor zu. Das veranlasste mich näher heranzugehen und da entdeckte ich 6 kleine Einkerbungen, die genau die Form von drei kleinen Knöpfen hatten. Bei diesem riesengroßen, imposanten Tor war uns das natürlich vorher nicht aufgefallen.

"Flori!" schrie ich voller Hoffnung. "Hol die Knöpfe raus, die genauso aussehen wie an meinen Lieblingsstücken." Er kramte in seiner Tasche und in diesem Moment passierten so viele Dinge auf einmal. Zuerst nahm ich wahr, dass sich die Knöpfe von den aus meinen Gedanken heraufbeschworenen Gegenständen, lösten und auf die ersten drei Positionen im Tor schwebten. Dabei verschwanden Fahrrad, Kassette und Jacke ins Nichts, wo sie auch hergekommen waren. Sie hinterließen jeweils einen kleinen Blütenregen. Im gleichen Moment grollte der Himmel und die griesgrämigen Mustermenschen rasten auf uns zu. Außerdem schaute mich ein entsetztes Flori-Gesicht an: "Ich finde die Knöpfe nicht." Doch noch bevor ich schreien, fluchen oder irgendwas entgegnen konnte, sauste etwas an meinem Kopf vorbei. Es war unglaublich: es war eine Nähmaschine! Eine fliegende Nähmaschine. Sie schien etwas zu jagen. Dabei peitschte sie mit ihrem Garn in die Luft vor sich. Eine brillante Jägerin - für eine Nähmaschine. Und schon hatte sie die kleinen Kügelchen vor sich eingefangen. Es waren kleine Knöpfe, diese befestigte der Faden aus dem wundersamen Maschinchen in den restlichen drei Platzhaltern im Tor. Es sprang auf als ein Mustermann bereits nach Emmis Geweih griff, seine Fingerspitze berührte es bereits...

Würden wir auch diesmal entkommen? Und was hatten die anderen drei Knöpfe zu bedeuten? Welche Geschichte würden sie uns erzählen?



Wie die Geschichte weiter geht, erfahrt ihr anhand unserer nächsten Kollektion!